Totale Freiheit. Totale Einsamkeit. Totale Ohnmacht.

Von der Premiere im Li.Wu. hat heuler online bereits berichtet, nun folgt noch eine Film-Kritik zu »Wir Sind Jung. Wir Sind Stark.« (D 2015). Nach »Der Name Der Leute« (F 2011) und »Only Lovers Left Alive« (USA 2014) hat mir das Li.Wu. nun bereits das dritte Mal einen Film präsentiert, der für mich zum Film des Jahres geworden ist.

Die Liste der Filme, die ich gesehen habe, ist endlos lang. Die meisten davon haben sich schnell vergessen lassen – nur wenige waren so unerträglich schlecht, dass ich abgeschaltet habe. Unweigerlich haben sich aber auch enorm viele filmische Perlen entdecken lassen, aber auch bei denen stellte sich nicht zwangsläufig das ein, was bei der Vorführung von »Wir Sind Jung. Wir Sind Stark.« geschehen ist: Ich war … gefangen … erschüttert … schockiert … betroffen … ergriffen … ohnmächtig.

Offizielle Synopsis:

Rostock-Lichtenhagen 1992. In der verödeten Wohnsiedlung hängen die Jugendlichen herum und wissen nichts mit sich anzufangen. Tagsüber gelangweilt, harren sie der Nächte, um gegen Polizei und Ausländer zu randalieren. Auch Stefan (Jonas Nay), der Sohn eines Lokalpolitikers (Devid Striesow), streift mit seiner Clique ziellos durch die Gegend. Es brodelt, aber immer nur bis kurz vor dem Siedepunkt. Ohne Job und eine Aufgabe, finden die Freunde immer nur sich selbst als Ziel kleinerer und großer Grausamkeiten. Liebe ist austauschbar, Freundschaft und Loyalität sind nur Beiwerk einer aufgesetzten Ideologie.

Auch Lien (Trang Le Hong) lebt mit ihrem Bruder und ihrer Schwägerin in der Siedlung, im sogenannten Sonnenblumenhaus, das von Vietnamesen bewohnt wird. Sie glaubt in Deutschland eine Heimat gefunden zu haben und will auch nach der Wende bleiben. Ihr Bruder dagegen plant die Rückkehr, weil er vor dem Hintergrund der wachsenden Anfeindungen um die Zukunft seiner Familie fürchtet.

»Wir sind jung. Wir sind stark.« erzählt die Geschichte eines Tages, dem 24. August 1992, aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Menschen. Sie alle eint die Sehnsucht nach Heimat, Liebe und Anerkennung. Doch am Ende dieses Tages werden einige von ihnen um ihr Leben fürchten, während andere Molotow-Cocktails werfen und Interviews geben.

»Wir sind jung. Wir sind stark.« zeigt, wie eine Gesellschaft vor den Augen der Weltpresse, in einer der schlimmsten Ausschreitungen der Nachkriegsgeschichte, moralisch gegen die Wand fährt.

Nicht nur die äußerst sichere, gelungene und trotz der Komplexität des Geschehens nicht nachlassende hervorragende Inszenierung durch Burhan Qurbani und dessen Team hat dazu beigetragen, dass der Film derart auf mich gewirkt hat. Die quasi fehlerlose Gesamtheit des Films ermöglicht es, sich auf Charaktere und Geschehen vollends einzulassen. Der Film entfaltet aber zudem seine tatsächliche Wirkung durch den realen Hintergrund der dargestellten Ereignisse. Ich ziehe gerne das Beispiel »Das Leben Der Anderen« (D 2006) von Florian Henckel von Donnersmarck heran, um zu beschreiben, wie unterschiedlich Filme wahrgenommen und erlebt werden können. Jemand, der in der DDR lebte und mit den Methoden der Stasi konfrontiert wurde, sieht den Film mit anderen Augen, als jemand, der im Westen lebte und nicht im entferntesten damit in Berührung gekommen ist – ebenso, wie die Generation der 1980er, die die letzten Jahre im Osten noch minimal erlebt hat. Diejenigen der 1990er sehen diesen Film erst recht anders, da die sie prägenden gesellschaftlichen Verhältnisse ganz andere waren. Unsere Erfahrungen prägen also das Erleben eines Filmes.

Als zehnjähriger Junge habe ich die Bilder vom Sonnenblumenhaus im Fernsehen gesehen. Die Ausschnitte aus der ZDF-Berichterstattung, die im Film zu sehen sind, weckten eine besondere Erinnerung – auch wenn es vielleicht nicht die unmittelbarste Verbindung zu den Geschehnissen ist, die man sich vorstellen kann. Nun lebe ich seit geraumer Zeit in Rostock, so dass der Film inzwischen einen ganz anderen Schnittpunkt mit mir erreicht. Er ermöglicht mir nun einen Einblick in die Vergangenheit der Stadt, in der ich lebe, die ich selbst so aber nicht erfahren habe. Wie schwer lässt es sich vorstellen, dass es hier einen solchen gesellschaftlichen Ausnahmezustand gegeben hat, denn »Mein Rostock«, wie Marteria es singt, sieht für mich doch ganz anders aus. Alle diese Facetten spielen eine Rolle, wenn es um das Erleben des Filmes geht. Ist der Blick darauf also zu verfälscht, wenn ich sage, dass dies bereits jetzt für mich der Film des Jahres ist?

Der Film sucht nicht nach Antworten, die er präsentieren kann und enthält sich wertender Aussagen. Burhan Qurbani bietet ausschließlich Einblicke – alles andere überlässt er dem Zuschauer. Man bekommt auch keine Entwicklung der Charaktere zu spüren, die im Kino der Unterhaltung immer wieder gerne gesehen wird. Charaktere sollen dort Momente der Erkenntnis und der Läuterung erleben, die sie zur Einsicht und zum Umdenken bringen. Wie viele derartige Augenblicke zur Reflexion bietet »Wir Sind Jung. Wir Sind Stark.« den Charakteren an, so dass die Erkenntnis einsetzt und sie den Wendepunkt im Leben erreicht haben. Das Angebot steht, aber der Zuschauer muss erleben, wie sie dieses ignorieren und immer weiter in dieselbe Richtung ziehen. Diese Augenblicke werden von der großartigen schauspielerischen Leistung aller Darsteller getragen, die den Charakteren authentisch Leben einhauchen. Besonders hervorstechend und zermürbend ist jedoch der Augenblick, indem ein Journalist die Clique vor laufender Kamera fragt, weshalb sie abends zum Sonnenblumenhaus gekommen ist. Schweigen. Grinsende Gesichter. Eine echte Antwort bleibt aus – das, was folgt, sind hohle Phrasen.

Der Film zeigt Menschen, die mit Problemen kämpfen. Als Individuen sollen sie im sozialen Gefüge einer neuen Gesellschaft der Wendezeit funktionieren, ohne dafür eine Anleitung erhalten zu haben. Das größte Problem sind sie selbst. Bei so vielem, was im Film mit den Charakteren geschieht und was allen widerfährt, gibt es doch nur so wenig, was sie für sich selbst diskutieren und reflektieren. Sie müssten Einsatz zeigen, Verantwortung für andere und erst recht sich selbst übernehmen. Wie schnell aber verdrängen Robbie als auch die anderen, dass er beinahe aus Wut von einem aus der Clique getötet worden wäre.

»Wenn es eine schöne neue Welt geben sollte, dann wird das Leben darin für unsere Generation am schwersten sein.«

»Star Trek VI – Das Unentdeckte Land« (USA 1991)

Wut ist es, die allen im Bauch liegt und die sich ein Ventil sucht. Der Grund der Wut findet sich wohl am besten in Ramonas Worten während des Fernseh-Interviews wieder: Totale Freiheit bedeutet eigentlich nichts anderes als totale Einsamkeit. Vielleicht beschreibt das auch die Jugend nach der Wende Anfang der 1990er. Die bisher gelebten Stabilitäten sind zusammengebrochen und die neu gewonnenen Freiheiten erschienen wie unüberwindbare Herausforderungen – auf einmal, von hier auf jetzt, sollte es ein neues Modell für das Leben geben. Jeder steht damit alleine da, jeder trägt seine eigene Wut mit sich herum und sieht sich mit der eigenen Ohnmacht dem gegenüber konfrontiert. Die Einsamkeit zeigt sich auch in Beziehungen. Partnerschaften sind nicht mehr dauerhaft stabil. Jennie ist das Paradebeispiel in der Clique: Robbie und Jenni. Jenni und Stefan. Und Stefan fragt sie, mit wie vielen anderen sie schon etwas hatte. Robbie will sie. Er will sie heiraten, Kinder kriegen, halt das volle Programm, wie er sagt – und dennoch merkt er nur, wie sie gleichzeitig nah und fern ist. Stefan hingegen weiß eigentlich nicht, was er von Jennie will. Alle sind gemeinsam einsam.

Dieser eine abgebildete Tag ist nur ein Ausschnitt. Der Film blendet geschickt den sozialen Kontext, also die Entstehung der Krisenherde, aus und lässt das Publikum mit dieser zentralen, aber unbeantworteten Frage nach einer Erklärung allein. Die Aufarbeitung bleibt richtigerweise dem Zuschauer selbst überlassen. Man hat die totale Freiheit, selbst zu recherchieren und mehr herauszufinden – und das ist gleichzeitig die Verantwortung, die man für sich selbst trägt, nämlich, wie man mit dieser Freiheit umgeht. Das auf der Leinwand gezeigte, das ist unsere – nicht nur Rostocker – Geschichte. Das Wissen um unsere Vergangenheit und dessen Reflexion ebnet den Weg in unsere Zukunft.

Als nach intensiven 120 Minuten der Abspann lief, war im ausverkauften Kino eine langanhaltende Stille zu spüren, wie ich es noch nie erlebt habe. Vielleicht ist das auch nur bei einem Rostocker Publikum möglich, das sich die eigene Geschichte hat vor Augen halten lassen. Ist es vielleicht durch ein kollektives Gefühl der Scham und Betroffenheit hervorgerufen gewesen? Erst, als im weit fortgeschrittenen Abspann für alle überraschend deutlich wurde, dass der Film in Halle an der Saale – bei mir als ehemaligem Hallenser ein Schmunzeln hervorrufend – gedreht wurde, ist das Publikum wieder aus diesem nebulös-komatösen Zustand erwacht. Unsere Kino-Clique diskutierte anschließend über den Film. Wir rekonstruierten ein wenig den Kontext der Zeit – eben das, was der Film nicht machen wollte. Ein Bekannter sprach davon, dass er Anfang der 1990er die Stadt verlassen hat, da auch er den Zerfall gesehen und gespürt hat, von dem die Charaktere im Film geprägt sind.

Auch nach dem Ende von »Wir Sind Jung. Wir Sind Stark.« hält das Nachdenken über das Gesehene und das Erlebte an – vor allem mit Blick auf die gegenwärtigen Geschehnisse in Deutschland. »Wir Sind Jung. Wir Sind Stark.«: Das ist großes Kino. Intensiv. Authentisch. Ergreifend. Der Film des Jahres. Eine Oscar-Nominierung als bester ausländischer Film wäre absolut richtig.