Der zehnte »Polizeiruf 110« aus der Hansestadt Rostock ist unerwartet beeindruckend. Eoin Moore hat mit »Familiensache« ein intensives, schonungsloses Drehbuch verfasst, das an den richtigen Punkten auf Zurückhaltung und Aussparung setzt. Ernsthaft, tragisch – und äußerst souverän inszeniert.
In »Familiensache« geht es um Verlust. Nicht um den von Geld oder Job, sondern um den der Liebsten. Nicht durch deren Tod, sondern durch deren Entscheidung, fortan getrennte Wege gehen zu wollen. Arne Kreuz ist zwar auch sozial auf dem absteigenden Ast – ohne Geld, ohne Job – aber besonders schwer wiegt die Trennung von seiner Freundin und den drei gemeinsamen Kindern. Was für sie eine wichtige, richtige und endgültige Entscheidung ist, kann er nicht hinnehmen. Was er will, ist die Wiedervereinigung – auch wenn es bedeutet, dass sie erst im Tod beieinander sein können. Entweder in einer anderen Welt, zumindest aber in einem großen Familiengrab. Das ist die Bitte an seine verzweifelte und schockierte Schwester. Sie soll dafür sorgen, dass alle nebeneinander liegen. Seine Welt ist zerbrochen – und so beginnt er, sich schonungslos eine neue zu erschaffen.
Dieser »Polizeiruf 110« ist unerwartet intensiv, unerwartet leise – das Thema ernst und tragisch – das Vorgehen und die Zeichnung der Charaktere vielschichtig, echt. Nicht nur das Geschehen um Arne Kreuz, dessen Schwester, Ex-Freundin, Kinder sowie Schwiegermutter und -vater ist zermürbend, sondern auch das um die Kommissare. Gerade für Alexander Bukow bauen sich ungeahnte Parallelen auf. Auch er wird nah an den Verlust herangeführt, den Arne Kreuz erlebt hat. Ende noch offen. Die Empathie-Karte wird mit dem Kommissar zwar nicht zu deutlich ausgespielt, aber genau hierin liegen die überraschenden Kniffe, die Autor und Regisseur Eoin Moore anwendet. Wiederkehrend scheint er in klischeehafte Beschreibungen abzuwandern, doch seine Kunst ist es, einfach, echt, normal – authentisch – zu bleiben. Diese Folge lebt von den Dingen, die unausgesprochen bleiben oder nur angesprochen werden, aber einem dennoch stets deutlich vor Augen liegen. Der Autor gibt sich nicht dem Verlangen hin, alles bis zum Ende ausdiskutieren zu müssen, sondern übt sich stattdessen in Zurückhaltung. Der sich durch ein geschickt konstruiertes Missverständnis entfaltende Konflikt zwischen Alexander Bukow und seinem Kollegen Volker Thiesler entlädt sich nicht in einem Moment, sondern wird von Szene zu Szene und Tatort zu Tatort weitergetragen – und muss sich der Aufgabe beider unterordnen. Die Schauspieler spielen zu diesem anderen Takt des Drehbuchs eine ganz neue, harmonische Melodie. Allein die kurze Szene zwischen Alexander Bukow und Vivian ist von einem intensiven, aber nicht übertriebenen Spiel geprägt. Nicht zuletzt ist es aber auch alles der Erzählung über die tickende Zeitbombe Arne Kreuz geschuldet. Der parallele Ablauf von Ermittlungen und Tatgeschehen macht immer wieder deutlich, dass es sich um einen Wettlauf gegen die Zeit handelt. Der Druck auf die Kommissare ist groß, die Schicksale lassen niemanden unberührt, Befindlichkeiten müssen zurückgestellt werden – und sind dennoch präsent.
Rostock spielt zwar wieder einmal eine untergeordnete Rolle, ist aber präsenter als bisher – selbstverständlich auch auf kuriose Art und Weise. Anneke Kim Sarnau wohnt in der beliebten Neuen Werderstraße, die im Film keine Einbahnstraße ist. Das würde in Wirklichkeit vielen Leuten gefallen und häufige Umwege ersparen. Spannender ist nur noch, dass der beste Weg nach Toitenwinkel vom Konrad-Adenauer-Platz vor dem Bahnhof über die Ausfahrt zur Goethestraße führt. Rostocker wissen Bescheid – der Zuschauer fragt nicht.
Dieser Krimi unterhält nicht nur neunzig Minuten, sondern lässt auch etwas erleben und hinterfragen, ohne Antworten aufzudrängen. Das Nonplusultra ist er dennoch nicht. Fehler und Schwächen schleichen sich ein, aber auch Kathrin Königs scheinbare Vorliebe, »Fuck« zu sagen, ist nur ein weiteres Kuriosum – und kein Störenfried.