In den letzten Tagen habe ich nochmals WAS DAS LEBEN MIT DER LIEBE MACHT (D 2013) von Erwin Koch gelesen. Ein Buch, das literarisch und inhaltlich gleichermaßen zutiefst beeindruckend ist. Allerdings, ich habe es nicht wirklich gelesen – ich habe es vorgelesen, als Präsent für jemanden. In einer Art Selbstversuch habe ich das Ziel verfolgt, das Lese-Buch in die Audio-Buch-Variante zu übertragen. Neun Tage, neun Kapitel und hunderten Wiederholungen später ist das Ergebnis da und ich stehe mit vielen neuen Erfahrungen und Eindrücken da.
Ausgestattet mit einem neuen Mikrofon, der eingerichteten Software am Computer und erfüllt von der Überzeugung einer Freundin von mir, die wiederkehrend auf WhatsApp-Sprachnachrichten von mir sagt, ich müsste eigentlich Action-Filme synchronisieren, habe ich losgelegt. Die Vorstellung war von Anfang an da, dass das sicherlich nicht ohne Probleme ablaufen wird. Das Sprechen und erst recht das Vorlesen bzw. Vortragen sind, wie soll man es sagen, fehleranfällig. Die Intonation ist unabsichtlich falsch gesetzt, die Stimme springt aus der Bahn, ein unwillkommenes Räuspern, … alles Dinge, die man gerade auf einer Aufnahme nicht haben möchte. Und so habe ich mir gleich zu Beginn gesagt: Eine Seite des Buches wird einer Datei am Computer entsprechen. Ich will nicht noch schneiden müssen. Zur Not muss die Seite eben erneut vorgelesen werden. Leider kann aus erneut auch schnell sehr oft werden.
Das Projekt war eine besondere neue Erfahrung. Zwar war ich durch langjährige Tätigkeiten in der universitären Lehre und hin und wieder auch dem Erschnuppern von etwas Bühnenluft nicht unbedingt sprach- und stimm-unerfahren, aber live geht in diesen Situationen schnell mal etwas daneben und das wird mit eingeplant. Die Konzentration auf Geschwindigkeit, Betonung, Atmung und vor allem auch Nebengeräuschen – die Störung durch Geräusche von der Straße oder den Nachbarn hat häufig zum Abbruch einer Aufnahme geführt – hat mir viel Konzentration abverlangt.
Hinzugekommen ist dann aber auch noch der Schreibstil von Erwin Koch. Wie bereits in der Kritik beschrieben, ist der Stil äußerst nüchtern, so dass sich die Geschichte erst im und durch den Leser massiv entfaltet. Dementsprechend bin ich auch an das Vorlesen herangegangen, habe aber sehr schnell gemerkt, dass das in diesem Medium nicht passt. Ich musste stimmlich also eine Betonung finden, wo schriftlich keine gegeben ist. Und hier zeigt sich die Transformation von einem Medium zum anderen, denn diese Anpassung erschien mir unvermeidlich. Der Wortlaut ist erhalten geblieben, aber der Ausdruck ist ein anderer geworden. Die große Frage ist, habe ich das Original damit verfälscht? Ja. Und auch nein. Mir geht dabei immer wieder der Satz zur Energieerhaltung durch den Kopf: In einem geschlossenen System kann Energie nicht erschaffen oder verloren gehen, sondern nur von einer Form in eine andere umgewandelt werden. Buch und Audio-Buch befinden sich aber nicht in einem geschlossenen System. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Medien. Daher habe ich mich auch sehr schnell damit abgefunden, dass ich mit ausgewählter Betonung sprechen werde, statt den Versuch zu unternehmen, die Nüchternheit auch stimmlich wiederzugeben.
Wie lief also die stimmliche Umsetzung des Buches ab? Neun Geschichten und um die 150 Seiten mussten vorgelesen werden. Jeden Abend eine Geschichte, neun Tage lang. Pro Geschichte habe ich bis zu einer Stunde benötigt. Jede Seite wurde separat vorgetragen bzw. habe ich (leise) umgeblättert, wenn der Absatz erst auf der nächsten Seite geendet hat. Und dann gab es die ungezählten Abbrüche aus den verschiedensten Gründen: Nebengeräusche. Versprecher. Falsche Betonung. Lallen. Stocken. Neben weiteren Gründen hat häufig auch der nicht erfüllte eigene Anspruch an mich als Sprecher zum Abbruch geführt. Schmerzlich waren diese Abbrüche vor allem, wenn sie kurz vor Ende der Seite stattgefunden haben, denn es mussten im Schnitt zweieinhalb bis drei Minuten erneut eingesprochen werden – und das mehrmals hintereinander.
Als Projekt ist es eine äußerst spannende Erfahrung mit vielen neuen Eindrücken. Das ganze noch einmal professioneller durchzuführen und umzusetzen wäre für mich sehr verlockend. Und inhaltlich hat es meinen Zugang zu dem Buch von Erwin Koch und den darin geschilderten Welten noch einmal erweitert. Lesen. Vorlesen. Lohnenswert.