Paris – Je T’Aime VS. New York – I Love You:
Reise(Film)Fieber?

Unter Reisenden: Es war einmal … Da machten sich zwei Rostocker Studierende auf in die weite Welt. Henriette Pulpitz ging für längere Zeit nach Paris – Clemens Langer genoss einen Urlaub in New York. Zwei Filme erzählen von diesen Städten – sprechen aber auch die Städte durch die Filme? Zwei Leute. Zwei Erfahrungen. Zwei Blickwinkel.

 

Clemens Langer:

Als ich den Roman »American Psycho« von Bret Easton Ellis gelesen habe, war eine kurze Reise nach New York für mich bereits Vergangenheit. Ohne die Reise hätte ich den Roman, Patrick Bateman und die Zeichnung New Yorks bei Weitem weniger nachvollziehen können. Beim Lesen war daher immer eine gewisse Vertrautheit mit der Stadt vorhanden, auch wenn der Roman Ende der 1980er spielt. Das Buch verleiht der Stadt eine markante Stimme. Gelingt das aber auch einem Film namens »New York – I Love You« (USA 2009)?

Die einzelnen Episoden, die vielfältigen Szenarien und die Charaktere werden durch die Kreativität der am Film beteiligten Autoren und Regisseure immer wieder geschickt und beiläufig miteinander verknüpft. Die Episoden sind nicht unmittelbar abgeschlossen, sondern bilden über die filmische Tour durch die Stadtviertel New Yorks und die auftretenden Charaktere ein harmonisches Gefüge. Über Chinatown geht es in den Diamond District, zur Upper Westside, nach SoHo, in den Central Park, nach Greenwich Village, zur Upper Eastside, erneut in den Central Park, zurück nach Chinatown und nach Brighton Beach. Die Reise und die Einblicke, die sich dabei bieten, nehmen die Zuschauer gefangen und lassen sie nicht los. Der Schönheit und dem Erlebnis zum Trotz fühlt man sich dennoch nur wie ein Tourist ohne Stadtkarte – einfach orientierungslos.

Gerade die verzaubernden und entzaubernden Einblicke in die Stadt, die sie selbst jeden Tag präsentiert, scheinen im Film nicht vorhanden zu sein. Zwar ist man mittendrin und an echten Schauplätzen, aber der gewählte Fokus ist ein anderer. Die Stadt, die niemals schläft, wird in den Hintergrund gedrängt. Die Wahrzeichen, die einem aus den Medien vertraut sind, stehen nur in kurzen Aufnahmen im Mittelpunkt. Diese sind für die Zuschauer aber eine wichtige Orientierung – erst durch sie wird Fernsehen auch zu einem In-die-Ferne-Sehen. Man weiß, wo das Geschehen spielt und denkt sich deshalb auszukennen. In »Stirb Langsam – Jetzt Erst Recht« (USA 1995) von John McTiernan wird in der Eingangssequenz der komplexe Schauplatz New York echter als irgendwo sonst eingeführt und zur Spielwiese für den Film gemacht. Immer wieder wird der derzeitige Standort deutlich. Tony Scotts Remake »Die Entführung Der U-Bahn Pelham 123« (USA 2009) spielt hingegen im bestechenden Setting der New Yorker U-Bahn und lässt dem Zuschauer trotz aller Action ebenfalls ein Gespür für die Geografie und die Atmosphäre der Stadt entwickeln. Viele Filme, die in dieser Metropole spielen, lassen sie erlebnisreich lebendig werden – und das mit einem beachtlichen Wiedererkennungswert. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sich ein Gespür für die Stadt und die dort erlebbare Atmosphäre einstellen – das schaffen nur wenige Ausnahmen.

Die Macher von »New York – I Love You« schaffen es stattdessen, die stets spürbare Freundlichkeit, aber enorme Distanz, Oberflächlichkeit und Verrücktheit ganz unterschiedlich und diskret einzufangen, ohne die Architektur der Stadt zu gebrauchen. Stattdessen werfen sie einen Blick auf einzelne Menschen. Diese episodenhaften Einblicke sind das hinreißende Herzstück des Films – gleichzeitig aber auch das, was den Namen New York im Titel fehl am Platz sein lässt. In den Episoden geht es nicht um die Stadt, sie ist nur ein Setting ohne Relevanz. Dennoch geht es um eine Metropole – und um Menschen, um Liebe, um das gegenseitige Erkennen, Durchdringen und Verstehen, statt bei der Oberflächlichkeit haltzumachen. Die Charaktere sehen in andere Menschen hinein. Aus der augenscheinlichen Fremde wird eine Verbundenheit, die unausgesprochen sagt: Ich liebe dich.

»New York – I Love You« habe ich zweimal gesehen, einmal davon zeitnah nach der Reise in diese atemberaubende Stadt. Der Film konnte damals weder den Erwartungen noch den Erinnerungen gerecht werden. Inzwischen sehe ich den Film aber genauso, wie die Charaktere darin einander betrachten – mit Faszination. New York jedoch spricht noch immer nicht zu mir.

 

Henriette Pulpitz:

Meine Liebe zu Paris begann schon früh. Ein Fernsehfilm ließ mein Herz höher schlagen, als die Kamera über pompöse Boulevards schlenderte, den Eiffelturm umkreiste, einem Paar entlang der Seine folgte und mir, einem etwa sechsjährigen Mädchen, zeigte: Paris ist Amour, Zweisamkeit, Schönheit und Leichtigkeit, Sprache und Genuss, Paris ist eine schöne Fremde …

Welche Beziehung Tom Tykwer zu Paris hatte, als er die Geschichte zu »True« (D 2004) schrieb, wissen wir nicht. Auf der Berlinale im selben Jahr präsentierte er eine rasant erzählte und berührende Liebesgeschichte zwischen einem Blinden und einer Schauspielstudentin im 10. Arrondissement, die begeisterte. »True« war als Bester Kurzfilm nominiert und konnte 17 weitere Regisseure dazu bewegen, an diesem Projekt über die Liebe und Paris teilzuhaben. Entstanden ist ein Puzzle aus 18 in sich geschlossenen Geschichten um die Liebe, die so unterschiedlich wie das Thema selbst und auch die Stadt sind. Eine Stadt, die wie kaum eine andere auf der Welt mit wahren und unwahren Klischees lebt.

»Paris – Je T’Aime« (F 2006) glänzt mit einem beeindruckenden Staraufgebot und präsentiert eine berauschende Vielfalt an Settings, Erzähltempi, Perspektiven und Farben, die dem Zuschauer eine gehörige Portion Aufmerksamkeit abverlangen. Gleichzeitig ermöglicht eben jene Vielfalt, einen Hauch des kulturellen, ethnischen, visuellen und gesellschaftlichen Reichtums von Paris zu erfassen. Trotz gewöhnlicher, skurriler, theatralischer Geschichten lässt es sich die Kamera nicht nehmen, immer wieder das beleuchtete Panorama einzufangen, welches unvermittelt zum Schwärmen einlädt. Die abendlichen Lichter der Stadt – kein Tourist und kein Filmemacher, ja, nicht einmal die Pariser selbst vermögen sich dieser Magie zu entziehen. Unter ihnen erblüht eine junge Liebe am Ufer der Seine, wird das Kennenlernen zweier einsamer Pantomimen kunstvoll in Szene gesetzt, witzelt ein in Trennung lebendes, betagtes Ehepaar über seine neuen jungen Lieben.

Meinen ersten längeren Aufenthalt verbrachte ich in einem Vorort in der berüchtigten Banlieue. So lernte ich sehr schnell die andere Seite der Stadt kennen. Eine Stadt, die depressiv, klaustrophobisch und desillusionierend sein kann, die ihre Obdachlosen verschlingt, ihre Migranten mit Argwohn beäugt, in der man nicht mehr hinschaut. Diese sozialen Probleme werden auch in »Paris – Je T’Aime« thematisiert, gleichzeitig sehen wir Quartiers, in denen die Pariser »französischer« nicht sein könnten. Dies zeigt auch die anrührende Geschichte einer jungen Mutter in der Episode »Loin Du 16e«. Frühmorgens erwacht sie in ihrer kleinen Wohnung in der Banlieue. Sie bringt ihr Baby in die Krippe, wo sie ihm, bevor sie aufbricht, um im reichen 16. Arrondissement das Kind einer wohlhabenden Familie zu hüten, ein wunderschönes Kinderlied auf Spanisch vorsingt, welches den ganzen Film trägt. Ihre Arbeitgeberin interessiert sich nicht für sie. Es scheint ihr gleich zu sein, dass das eigene Kind ihrer Tagesmutter den ganzen Tag in einer Kinderkrippe verbringen muss. »Ich komme heute etwas später!«, ruft sie ihr zu.

»Paris – Je T’Aime« zeigt Menschen in einer Großstadt, denen die Chance auf Zweisamkeit verwehrt wird, die Verluste geliebter Menschen erleiden und die versuchen, ihrem Liebesleben einen neuen Kick zu geben. Nun, dies könnte überall sein. Doch »Paris – Je T’Aime« schließt mit einem Kurzfilm über eine amerikanische Touristin, die dem Zuschauer auf sehr sympathische und verklärte Weise noch einmal vor Augen führt, wie Paris ein Herz berühren kann: »Ich fühlte mich lebendig.« – Meine Liebesgeschichte mit Paris begann rosarot, es folgten Enttäuschungen, ich fühlte mich desillusioniert und überfordert – und schließlich geriet ich ganz und gar in ihren Bann. Hemingway hat einmal gesagt: »If you are lucky enough to have lived in Paris as a young man, then wherever you go for the rest of your life, it stays with you, for Paris is a moveable feast.« Er hatte recht. Paris, je t’aime.