Roland Rau VS. Clemens Langer:
Apocalypse Now?

Unter Filmfreunden: Es war einmal … Da schlich sich in eine Unterhaltung zwischen Prof. Roland Rau und Clemens Langer die Frage ein, wie beide »Apocalypse Now« (USA 1979) deuten. Einer kannte den Film schon, der andere noch nicht. Interpretatives Konfliktpotenzial inbegriffen? Schriftlich, aber ohne Napalm als Tinte, hier nun zwei Sichtweisen.

 

Clemens Langer:

Francis Ford Coppolas »Apocalypse Now« (USA 1979) ist mehr als nur ein hervorragend erzählter und gestalteter Film. Es ist, wie schon der Titel des Originalromans von Joseph Conrad andeutet, eine Reise in das »Herz Der Finsternis«. Captain Willard und die Zuschauer reisen ab, ohne die lauernden Erlebnisse auch nur zu erahnen.

Im Film ist das Setting von Afrika in die Gefilde des Vietnamkriegs verlegt. Captain Willard erhält den Auftrag, den abtrünnigen, verrückt gewordenen und mordenden Colonel Kurtz, der sich über die Grenze nach Kambodscha abgesetzt hat, auszuschalten. Bereits zu Beginn sagt er als Erzähler, dass er die Geschichte von Kurtz nicht erzählen kann, ohne nicht auch seine und die der Reise zu erwähnen. Beide hängen unerwartet und unmittelbar zusammen. Genau dies macht sich auch in dem waghalsigen Kunstgriff bemerkbar, dass Colonel Kurtz, der immer wieder verbal erwähnt wird, erst äußerst spät im Film als tatsächlicher Charakter auf der Leinwand erscheint. Die von den Widersprüchen, Absurditäten und dem Wahnsinn des Krieges gezeichnete Reise, die Captain Willard zum Dschungelversteck antritt, wird nicht nur zu einer Spurensuche nach Colonel Kurtz, sondern zu einem Hineintreten in dessen Stapfen. Würde es sich um einen schlichten Actionfilm handeln, dann wäre der Colonel so etwas wie der Endgegner, zu dem sich der Protagonist im Verlauf des Films durchschlagen muss. Einerseits stimmt das auch hier, andererseits verbirgt sich dahinter aber nicht nur, wie sonst üblich, dass man sich aneinander messen kann und sich kräftemäßig auf Augenhöhe begegnet. Die Augenhöhe, die beide Charaktere hier erreichen, hat etwas mit Verstehen und Verständnis aufgrund ähnlicher Erfahrungen zu tun. Vielleicht lässt sich sogar sagen, dass für Colonel Kurtz eine Erlösung aus dem Wahnsinn darin liegt, dass er mit Captain Willard das Leid teilen kann – denn geteiltes Leid ist halbes Leid.

Colonel Kurtz ist kein zimperlicher Charakter, sondern jemand, der eine gewaltige Blutspur hinter sich herzieht. Der einstige Prototyp des hochdekorierten Offiziers überlebte den mentalen Absturz in die Finsternis, in die er durch die Umstände, Widrigkeiten und unverständlichen Erlebnisse der normalen kriegerischen Welt gestoßen wurde. War der Weg seiner inhumanen Taten geradezu vorgegeben? Welche Schuld trägt er? Ist er Täter oder nicht? Der Colonel dachte immer, die Welt zu verstehen und in Balance seinen Weg zu beschreiten. Verstanden hat er aber nur, dass alles Absurde, was er gesehen und erlebt hat, die Realität ist. Die Welt dreht sich und findet eine stabile Position – genau über dem Abgrund. Alles, was er bisher gedacht und als echt wahrgenommen hat, ist in den Wirren von Kriegen zerbrochen. Dieser letzte Krieg hat dem Colonel das wahre Bild des Humanen vor Augen geführt. Das ist Kurtz‘ Apokalypse. Das Vertrauen auf die Richtigkeit der Sache existiert nicht mehr. Vernunft und Rationalität gehen Hand in Hand mit der schwer wiegenden Gebrochenheit des Colonels.

Die Taten von Kurtz sind unmenschlich. Dennoch scheint man sie nach der Reise etwas mehr verstehen zu können. Vielleicht ist ein wenig Sympathie für den Teufel dabei, wie es von »The Rolling Stones« in »Sympathy For The Devil« gesungen wurde. Der Teufel ist eben auch ein Zahnrad in der großen Maschinerie des Lebens. Es kann sich schnell oder langsam drehen, blockieren oder freien Lauf lassen – die Kette wird immer darauf reagieren. Der Colonel ist beides, vom Teufel gezeichnet, aber auch der zeichnende Teufel. Captain Willard erkennt dies, aber auch nur durch die Höllentour, die er selbst hinter sich hat und die auch sein Weltbild zu zerstören wusste.

Zwar spielt der Film während des Vietnamkriegs, aber die Botschaft ist eine universelle, zeitlose Parabel. »Apocalypse Now« ist nicht einfach ein Spielfilm, sondern eine Ausnahme von der Regel. Ergreifend, nachdenklich und taktvoll zermürbend. Es ist die Frage, welches Zahnrad jeder Einzelne von uns wann ist – und wie viel Zeit wir uns noch geben.

 

Roland Rau:

Um es gleich vorwegzunehmen: Für mich ist »Apocalypse Now« (USA 1979) der großartigste Film, den ich kenne. Und das nicht aufgrund von Zitaten wie »I love the smell of napalm in the morning« oder Szenen wie dem mit Wagners Ritt der Walküren unterlegten Hubschrauberangriff, die sich alle ins kollektive Gedächtnis gebrannt haben.

Auf das Minimale heruntergebrochen handelt es sich um die Mission eines Mannes, der den Auftrag erhält, einen anderen zu töten. Was macht also meine Faszination für diesen Film aus, der eine Geschichte erzählt, wie sie schon unzählige Male erzählt worden ist?

Schwierig wird bereits die Kategorisierung des Films: Um was handelt es sich? Vielleicht einen Kriegsfilm? Ein Antikriegsfilm ist es wohl nicht, fehlt doch die notwendige kritische Perspektive, wie sie Kubricks »Wege Zum Ruhm« oder Trumbos »Johnny Zieht In Den Krieg« bis ins Mark gehend einnehmen. Es kommt eher eine Ambivalenz zum Ausdruck. Ähnlich wie auf Private Jokers Helm in Kubricks »Full Metal Jacket« gleichzeitig ein Peace-Symbol und die Aufschrift »Born To Kill« zu sehen sind, ist auch der Hauptdarsteller in »Apocalypse Now« gleichermaßen angezogen wie auch abgestoßen vom Krieg: »When I was here, I wanted to be there. When I was there, all I could think of was getting back into the jungle.« Vermutlich ist dies kein Zufall. Michael Herr verfasste die Stimme des Erzählers in »Apocalypse Now« und arbeitete auch am Drehbuch von »Full Metal Jacket« mit.

Die Interpretation als Adaption von Joseph Conrads »Herz Der Finsternis« ist die wohl bekannteste. Die interessanteste Interpretation ist für mich jedoch eine ganz andere, eine, die vielleicht zuerst etwas abwegig klingen mag:

Bei »Apocalypse Now« handelt es sich demnach um eine Art Hardboiled-Detektivgeschichte im Stile von Raymond Chandlers Philip Marlowe. Bei genauerem Hinsehen erscheint dieser Ansatz jedoch vielleicht sogar ganz plausibel: Captain Willard (Martin Sheen) ist ein zerrissener Charakter. Er wird mit einer Schnapsflasche auf dem Bett liegend eingeführt. Ein Ventilator dreht sich an der Decke, typische Elemente von Detektivfilmen aus der Ära des Film noir, ebenso wie die lakonische, manchmal ans zynische grenzende Stimme aus dem Off: »I hardly said a word to my wife until I said yes to a divorce.« Auch die Art und Weise, wie der Protagonist seine Mission erhält, könnte einem Film noir entsprungen sein. Da diese Filme häufig in Kalifornien der 1950er Jahre spielen, wirkt das zweimalige Surfen in »Apocalypse Now« auch weniger surreal.

Der Weg zu seinem Ziel, nämlich den von Marlon Brando gespielten Colonel Kurtz zu töten, ist für Willard eine Reise zu sich selbst, seinem eigenen Herz der Finsternis. Im Verlauf des Films kommt diese Seelenverwandtschaft immer stärker zum Vorschein. So sagt Willard einmal: »It was a lie. And the more I saw of them, the more I hated liars.« Ganz ähnlich ist Kurtz’ Meinung: »… there is nothing I detest more than the stench of lies.« Dieser Nähe ist sich auch Willard bewusst: »It was no accident that I got to be the caretaker of Colonel Walter E. Kurtz. There was no way to tell his story without telling my own.«

Zwei Seelen wohnen also (, ach!) in Willards Brust, wodurch die Katharsis am Ende fast schon notwendig erscheint. Dass es die Kurtz’sche Seite ist, die eliminiert werden muss, ist Willard klar: »Never get out of the boat. Absolutely goddamn right. […] Kurtz got off the boat.« Willard bleibt hingegen im Boot, folgt also den Spielregeln, von denen er aber selbst nicht überzeugt scheint: »Charging a man with murder in this place is like handing out speeding tickets at the Indy 500.«

Oder ist »Apocalypse Now« vielleicht eine Adaption der Odyssee, zwar mit Sirenen – den Playboy Bunnies –, aber einem gebrochenen Helden ohne Heimathafen für die Rückkehr? Es wäre die Apokalypse für den klassischen Odysseus.