Forum Digitalum: 10 Jahre Blauäugigkeit?

Ein Jahrzehnt Facebook: Am 04.02.2004 startete erstmals Marc Zuckerbergs Facebook. Was als eine Art College-Jahrbuch begann, ist inzwischen zum global dominierenden sozialen Online-Netzwerk mit über einer Milliarde Nutzern geworden – eine Kino-Verfilmung hat es zusätzlich gegeben. Die Welt à la Facebook – im Rückblick und Ausblick.

Ein Internet-Portal, das sich zehn Jahre halten kann und zudem noch stetig wächst, das ist etwas Außergewöhnliches. Im Internet ist es häufiger ein Kommen und Gehen. Die Großen wie Google, YouTube und Twitter zeigen aber, dass das Motto lautet: Wer zuerst kommt, der mahlt zuerst. Vom Kuchen bleibt für die Nachkömmlinge dann nicht mehr viel übrig. Die später gestarteten VZ-Netzwerke spielen zum Beispiel inzwischen keine Rolle mehr. Wie konnte aber eintreten, dass dieses deutsche Facebook für Studenten nach einem rasanten Aufstieg einen noch tieferen Fall erleben konnte? Im Gegensatz zur großen Konkurrenz haben die VZ-Angebote immer einen eingegrenzten Nutzerkreis angesprochen, wohingegen Facebook sehr schnell auf den Jedermann-Zug aufgesprungen ist – und zudem global expandiert hat. Die VZs sahen sich stets mehr Einschränkungen gegenüber, die den Abstand zur Konkurrenz und deren globale Aspekte uneinholbar machten. Facebook startete recht spät mit einer deutschen Oberfläche. Nach und nach registrierten sich neue Nutzer und führten ein zweites Profil parallel zum VZ-Profil, bis es zum Umschwung kam und sich viele zur Weiterführung von nur einem Profil entschieden. Von Nutzer zu Nutzer griff dieses Feuer um sich. Was auf der einen Seite zum Zuwachs führte, wurde auf der anderen Seite zum Niedergang. Gerade der Blick auf die Computer in Universitätsbibliotheken hat dies besonders deutlich gezeigt. Leuchtete es dort vormals intensiv in VZ-Rot vom Bildschirm, so strahlt einem seit einigen Jahren nur noch das Facebook-Blau entgegen, wenn parallel zu den geöffneten Präsentationen der letzten Vorlesung auch das soziale Netzwerk offen ist. Zwischendrin soll also nicht verpasst werden, was in der lebendigen Welt los ist – beiläufiges Kommentieren eingeschlossen. Egal ist, ob es in der eigenen Stadt, deutschlandweit, in Europa oder global stattfindet. Man kann potentiell immer live dabei sein.

Lässt sich das Phänomen Facebook aber genauer verstehen? An sich ist es nichts anderes als das Vorhandensein realer sozialer Prozesse in der virtuellen Welt. Wer kennt es nicht aus der Kindheit? Das Freunde-Buch – überspitzt auch gerne Schnüffel-Hefter genannt – wurde regelmäßig gehegt und gepflegt. Freunde haben die Profil-Angaben vervollständigt, die Lieblingsfilme, die Lieblingsmusik, die besten Freunde, das zuletzt gelesene Buch und vieles andere mehr eingetragen. Das Buch war nur beim Eigentümer zu finden. Facebook verdichtet dies nun auf die generelle und dauerhafte globale Verfügbarkeit. Jeder hat jederzeit Zugriff auf das, was freigegeben wurde. Zeitliche und räumliche Grenzen werden also aufgehoben, aber ebenso auch die Grenzen sozialer Kreise. Nach Georg Simmel bewegen sich Menschen in verschiedenen, voneinander getrennten oder sich auch überlappenden sozialen Kreisen. Die Arbeits-, Freundes-, Sport- und Freizeitgruppen – in allen Formen hat man vor allem mit verschiedenen Leuten zu tun, die in der Vielfalt das eigene soziale Umfeld bilden. Unterschiedliche Leute, unterschiedliche Aufgaben, unterschiedliche Perspektiven – so unterscheiden sich die Kreise voneinander. Facebook bildet nun aber nur einen sozialen Kreis aus, in dem sich Kollegen, Bekannte, Freunde und Verwandte zusammen tummeln – man teilt alles mit allen. Schon des Öfteren gab es Medienberichte von den dümmsten Verbrechern auf Facebook, die – wie zuletzt wieder in den USA – die eigene Fahndung gepostet und dabei Hinweise auf den Verbleib gestreut haben. Im nächsten Augenblick klickten die Handschellen. Ein weiterer Klassiker: »Chef denkt, ich bin krank. Urlaub …« Normalerweise bilden sich soziale Kreise automatisch und ohne Zutun heraus. Die virtuelle Welt verlangt dem Nutzer aber eine Administration ab. Entweder gibt es nur einen sozialen Kreis, oder man muss sich an die mühsame Aufgabe machen, manuell die Muster aus der Realität zu übertragen. Der Facebook-Konkurrent Google+, gerade einmal im dritten Jahr, baut hingegen auf den sozialen Kreisen auf und will die manuelle Kontrolle beiläufiger werden lassen und somit für eine elegante Lösung sorgen.

Facebook ist ein Phänomen, dass man zu erklären versucht, aber die genauen Gründe für den maßlosen Erfolg lassen sich wohl kaum eindeutig benennen. Die Macher hatten aber passende Schachzüge parat. Sicherlich sind die App-Anbindung und somit der Sprung in die technisierte mobile Welt sowie erst recht eine schlichte Liefer-Mentalität ausschlaggebend gewesen. Per Smartphone kann nun jederzeit und überall etwas gepostet werden – ein Phänomen, das mit dem Kunstbegriff Phubbing zusammenpasst: Das Smartphone wird konzentriert in den Händen gehalten und die Freunde um einen herum werden ignoriert. Die Welt wächst umso mehr zusammen, Zeiten und Räume werden immer relativer, je mehr sie sich im eigentlichen Augenblick entfalten. Per Facebook kann man die Welt in Händen halten. Gleichzeitig hat man ein dauerhaftes potentielles Angebot an Informationen über die Leute, mit denen man befreundet ist, über Institutionen, Schauspieler, Sänger und viele andere mehr, die man alle per Klick auf »gefällt mir« abonniert hat. Das Abonnement sorgt dafür, dass man die neuen Posts taufrisch geliefert bekommt, statt sich selbst auf Informationssuche begeben zu müssen. Eine Erleichterung, zu der man nur sagen kann: »gefällt mir«

Ist Facebook also auch zu einer Schaltzentrale unserer selektiven Wahrnehmung geworden? Die Meinungen gehen sicherlich weit auseinander. Ein soziales Online-Netzwerk kann sowohl positive wie auch negative Perspektiven entfalten. Es kann als organisatorisches Instrument politisch orientierter Demonstrationen eingesetzt werden – oder aber auch zum individuellen Mobbing. Beides bekannte Konstellationen. Und wenn ein solches Netzwerk nicht zur Verfügung steht, findet die soziale Realität andere Wege. Nur die Verdichtung von Zeit und Raum lässt sich nirgends anders in dieser Intensität finden. Facebook wird sich sicherlich noch weiter halten. Die Generation 50+ schließt derzeit auf, Jugendliche verabschieden sich hingegen vom Netzwerk – eine Rückkehr ist dennoch nicht ausgeschlossen. Man möchte eigentlich sagen, dass sich 1,25 Milliarden Nutzer nicht täuschen können und Facebook ein Schlüssel zur modernen Welt ist. Egal, von welcher Seite es betrachtet wird, letztendlich führt an der Blauäugigkeit nur das besondere individuelle Maß an Verantwortungsbewusstsein und Mediennutzungskompetenz vorbei. In diesem Sinne: Auf zum Heuler auf Facebook – das Kommentieren kann beginnen.